Sonntag, 8. Februar 2009

misc | Die Nächte sind für die Armen


Nach einer halben Stunde finden wir die kleine Seitenstrasse in der sich laut meinem Freund viele Bars befinden sollen. Ich lasse meinen Blick über das enge Strässchen schweifen. Auf der linken Seite zwei Bars, vor der junge Menschen stehen, telefonieren und Zigaretten rauchen. Männer in Hut und Uniform stehen vor den massiven Türen und öffnen sie jedes Mal, wenn jemand ein oder austritt. Aus der ersten Bar dröhnt amerikanische Hardrockmusik. Auf der rechten Seite befinden sich kleine Restaurants, wo sich Einheimische und Touristen den Magen füllen.

Und dann passiert es: in dieser grossen Stadt trifft mein Blick auf einen anderen, paralysiert mich. Ich schaue ihr in die Augen und fixiere ihr dunkles Gesicht nur für einen sehr kurzen Moment. Es ist verblüffend schön, wohlgeformt mit weichen, aber definierten Zügen. Ich schaue ihr in die Augen, dann wende ich den Blick ab. Dunkle, blitzende, flehende Augen. Die Frau sitzt auf dem Boden im Schneidersitz, im Schoss ein kleines Kind. Sie wippt nach vorn und wieder zurück und ihr schäbiges Sari wippt mit.

Ich kann nicht mehr hinsehen, mein Sandwich kaum mehr fertigessen. Wir laufen in die Gasse, mein Freund hat nicht bemerkt, was sich gerade abgespielt hat. Ich zwinge mich geradeaus zu schauen. Noch einmal würde ich ihrem Blick nicht standhalten. Mir zieht es den Magen zusammen. Wir laufen bis zum Ende der Gasse, enttäuscht darüber, dass es doch nicht so viele Bars hat, wie wir gedacht haben. In unserer Tüte befindet sich noch Zwiebelsalat mit einer Sauce. Wir haben beide keine Lust darauf. Ich schlage vor der Person, die mir vor zwei Minuten mit ihrem Blick ihr Leiden hat mitteilen könne den Salat zu geben. Ich nehme meinen Mut zusammen, um mich der Person zu stellen, die mich zu einem Duell der Blicke herausgefordert hat bei dem ich feige den Schwanz eingezogen habe und geflüchtet bin. Mein Freund ist einverstanden.

Wir nähern uns ihr von hinten. Als ich nur noch einen Schritt von ihr entfernt bin, scheint es mir als ob ich in eine Seifenblase eintrete. In einen Cocon aus Seife, den die Frau umgibt und dem sich niemand nähert, um ihn ja nicht zu zerstören. Ich zerstöre ihre Blase der Isolation mutwillig und lege ihr den Plastikbeutel in ihre geöffneten Hände. Ich öffne den Beutel und zeige ihr den Inhalt. Sie nickt beschämt, als ob der Zwiebelsalat schon zu viel wäre. Ihre Mundwinkel verziehen sich fast zu einem Lächeln. Doch bevor das Gesicht seine volle Pracht entfalten kann, ziehen sich die Lippen wieder zusammen. Wir verarbschieden uns mit einem Kopfnicken, laufen zwei Meter und beschliessen ihr eine Domino Pizza zu kaufen. „Regular und schnell bitte!“, sage ich. Neben uns sitzen Rucksatztouristen, die aussehen, als ob sie lange Zeit in Goa verbracht hätten. Rastalocken und Piercings zieren ihre Häupter und Gesichter. Sie reden davon wie unglaublich dieses Land doch sei und wie sie es geschafft haben in einem Bollywood-Film als Statisten mitzuwirken. Die 12 Minuten für die Pizza erscheinen uns wie eine Ewigkeit. Wird die Frau noch dort sein? Werden wir noch zu unserem Drink kommen, bevor die Bars um elf zu machen?

Die Frau sitzt noch immer vor dem Restaurant und schaut mit flehendem Blick und offenen Händen hinauf zu den Menschen, die nicht auf dem Gehweg sitzen müssen, sondern es sich leisten können auf ihm zu gehen. Ich öffne eine weisse Tüte ein zweites Mal. Ob Pizza in Ordnung sei, frage ich sie. Sie nickt wieder scheu, sie hat mich nicht verstanden. Ich zeige auf sie und das Kind und führe meine gewölbte Hand zu meinem Mund. Sie versteht und nickt heftiger. Wir verabschieden uns einmal mehr von ihr und während wir zur Bar rüber laufen, frage ich mich, ob sie wohl noch da sitzen wird, wenn wir wieder draussen stehen nach unserem ersten Drink des Abends.

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